Ina und Aiven, der Therapiebegleithund

von Sarah Boyd | Referentin für Öffentlichkeitsarbeit des Club für britische Hütehunde e.V.

Der Name des Kin­des wur­de redak­tio­nell verändert.

Jeden Tag ist unse­re Welt ein biss­chen schnel­ler, lau­ter und grel­ler. Vie­le Ebe­nen hat sie, über­ein­an­der gesta­pelt, untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den und doch getrennt. Jeden Tag manö­vrie­ren die meis­ten Men­schen sich bewun­derns­wert leicht hin­durch. Aber nicht alle. Ina‘s Welt ist nicht weni­ger far­ben­froh, nur enger, klei­ner. Ihre Welt besteht aus dem Glit­zern fei­ner Spinn­we­ben, die sie stun­den­lang betrach­ten kann, kon­zen­triert sich auf das Gefühl run­der Kie­sel­stei­ne, die sie immer wie­der durch die Fin­ger glei­ten lässt, über­rascht und zufrie­den, dass die­ses Gefühl sich nie gleicht und den­noch ver­läss­lich ähn­lich ist. Das Rau­nen des Win­des, der an einem kah­len Ast rüt­telt, erfüllt sie über Stun­den ganz und gar, so dass nichts ande­res Platz hat. Nicht ein­mal die Stim­men ihrer Eltern. In die­ser Welt ist Ina sicher. Aber sie ist auch gefan­gen. Ina ist 12 Jah­re alt und Autistin.

Es ist ein war­mer Nach­mit­tag, als Ina Aiven und Tho­mas zum ers­ten Mal begeg­net. Tho­mas hält Aiven‘s Lei­ne locker. Er kann ihm ver­trau­en — so wie der Hund ihm ver­traut. Der klei­ne chi­ne­si­sche Schopf­hund mit den klu­gen dunk­len Augen und der Mann mit dem brei­ten sym­pa­thi­schen Lächeln sind ein ein­ge­spiel­tes Team. Der ers­te Schre­cken, das inner­li­che Stau­nen, ver­fliegt schnell. Ina geht neben Aiven und Tho­mas, aber sie bleibt in ihrer eige­nen Welt. Was am Ende des Tages klar ist, ist ein Kind, das nicht spricht — und ein klei­ner Hund mit einer gro­ßen Auf­ga­be. Aus mil­den Früh­lings­ta­gen wer­den war­me Som­mer­stun­den. Dann fär­ben sich die Blät­ter an den Bäu­men leuch­tend gelb und rot. Tho­mas und Aiven wis­sen nicht, ob Ina dem Rascheln der Blät­ter unter Aiven‘s klei­nen Pfo­ten lauscht. Aber sie wis­sen, dass es genug ist für Ina, dass sie da sind. Der klei­ne Hund spürt den Wind­hauch der Ver­än­de­rung zuerst. Er hebt den Kopf und sieht zu dem Kind auf. Ina erwi­dert sei­nen Blick nicht. Aber sie greift nach einem Lecker­li in Tho­mas‘ Fut­ter­beu­tel. So oft hat sie gese­hen, wie Tho­mas Aiven füt­tert. Jetzt füt­tert Ina Aiven! Aiven nimmt das Bröck­chen behut­sam aus der Hand des Kin­des, den Blick ver­trau­ens­voll auf sei­nen Herrn gerich­tet. Ina füt­tert Aiven nun immer, wenn Tho­mas und Aiven sie besuchen.

Die Jah­res­zei­ten wech­seln, sonst ändert sich lan­ge nichts. Eines Tages aber nimmt Ina Tho­mas die Hun­de­lei­ne aus der Hand.  Sie tut dies mit einer Selbst­ver­ständ­lich­keit als ob es ein­fach so sein muß. Tho­mas lässt Ina’s Hand los und jetzt führt Ina Aiven an der Lei­ne hin und her!

Wie­der ver­geht die Zeit, Wochen deh­nen sich zu Mona­ten. Die Zeit des Besuchs neigt sich dem Ende zu. Der Hund ist müde. Der The­ra­pie­ein­satz ist anstren­gend. Es ist Zeit, sich zu ver­ab­schie­den. Und Ina sagt: „Tschüss, Aiven!“ Sie sagt das ein­fach so. Ihre Stim­me hebt und senkt sich nicht, sie ist nicht laut, aber für Tho­mas ist es ein unfass­ba­rer Moment, gleich dem erlö­sen­den Don­ner­grol­len nach einem schwü­len Hoch­som­mer­tag. Auch Aiven ver­steht die Grö­ße des Augen­blicks und sieht zu dem Kind auf. Und Ina sieht den klei­nen Hund an! Sie haben sich verstanden.

Das Glück ist manch­mal klein und unauf­dring­lich, so dass man es bei­nah über­sieht. Aiven, der klei­ne chi­ne­si­sche Schopf­hund, hat mit sei­nem Herrn mehr erreicht als alle Men­schen vor ihnen. In Aiven’s treu­en Augen spie­geln sich zwei Wel­ten, als er sich zu Hau­se zufrie­den an sei­nen Herrn schmiegt. Das Glück hat vier Pfoten.